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Representation matters! Reicht aber nicht aus.

Redaktion
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Warum Repräsentation gut für die Sichtbarkeit von Vielfalt ist. Aber schlecht für die Vielfalt im Storytelling. Ein Gastbeitrag von Letícia Milano und Johanna Faltinat.

Representation matters! Reicht aber nicht aus.

Das Ergebnis der mehr oder weniger intensiven Debatte zu Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung in der deutschen Medienbranche der letzten Jahre ist auf den Bildschirmen und Leinwänden zu sehen. Und sehen ist hier wichtig, denn darum geht es: Die Diversität muss sichtbar sein. Unter den neu entstandenen Formaten finden sich auch solche, die Figuren aus marginalisierten Gruppen in das Zentrum von Geschichten stellen.

Die einst heiß geführten Debatten kühlen sich in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise der Branche sehr schnell ab und die kritischen Stimmen werden immer lauter: Diversität schränke die künstlerische Freiheit ein. Formate, die sich Diversität auf die Fahne geschrieben haben, seien zu klischeehaft oder betrieben reines Diversity-Washing. Gewünscht wird allerseits, dass Diversität Inhalte nicht verhunzt, und vor allem: sich normal anfühlt, authentisch ist!

Ein Sprichwort, dessen Herkunft oft als “afrikanisch” beschrieben wird, besagt: „Solange die Löwen nicht schreiben lernen, wird jede Geschichte die Jäger verherrlichen.“ Das patriarchale Narrativ tut genau dies, es verherrlicht die Jäger, rechtfertigt die Jagd, indem es die Löwen objektiviert, und erwartet, dass sie die Kulturtechnik „Schreiben“ der Jäger erlernt. Das zeigt: Selbst das kritische Sprichwort kann sich nicht außerhalb des unterdrückerischen Systems bewegen. Alle, die aus der Mitte der Dominanzgesellschaft heraus erzählen, tun genau das: Sie übernehmen das Narrativ von „Wir und die Anderen“. Das patriarchale Narrativ beschreibt die Perspektive von privilegierten auf marginalisierte Menschen. Es ist ein objektivierendes Narrativ, das Unterdrückung immer wieder stabilisiert. Das patriarchale Narrativ ist eines, das aus marginalisierten Körpern Objekte macht und zwar auch dann, wenn diese Körper Protagonist:innen sind.

Ein guter Anfang ist es daher, Figuren aus marginalisierten Gruppen zu Subjekten zu machen. Das bedeutet, ihre Normalitäten und Lebensentwürfe anzuerkennen, einzubeziehen und aktiv in der Dramaturgie einzusetzen. Marginalisierungserfahrungen prägen Leben und sollten deshalb berücksichtigt werden – ganz egal, was für ein Genre erzählt wird. Um Stereotype zu vermeiden, sollten alle Figuren mehr sein als nur ihre marginalisierte Identität. Die Autorin Nicolette Barischoff hat gesagt: „Wenn eine Figur mit Behinderung über nichts anderes als ihre Behinderung nachdenkt, dann zeigt mir das, dass auch die Autor:innen über nichts anderes nachgedacht haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie man in meinem Körper lebt und arbeitet und spielt und flirtet und Sex hat, nicht einmal für ein paar Absätze.“

Eine neue Form des Erzählens

 

All das führt letzten Endes zu der Frage: Was wäre eine angemessene Dramaturgie für unsere Zeit? Was wäre ein Narrativ der Anderen*, in der Vielfalt nicht allein für Repräsentation steht, sondern für eine neue Form des Erzählens?

Dieses neue Narrativ stellt die Gesellschaftsordnung in Frage, sie besteht auf die Komplexität der  Charaktere und in der Handlung, anstatt sich mit Stereotypen und Funktionalitäten der Figuren zufrieden zu geben. Marginalisierte Figuren stehen nicht mehr in Relation zu privilegierten, sondern im Zentrum der Erzählung. Und zwar im Kollektiv. Denn: Wie viel Macht hat das Individuum allein in einer gewaltvollen Gesellschaft, die nur für einige wenige gut ist, wie sie ist? Dieses neue Narrativ sprengt die lineare, kausale Struktur, die der Normalität der Dominanzgesellschaft folgt. Der rote Faden der Geschichte ist weniger bei Figuren und Handlung als beim Publikum.

Wie wäre es mit einem neuen dramaturgischen Modell, einer Sisterhood Journey? Und hier ist Sisterhood nicht in Bezug auf Geschlecht zu verstehen, sondern als Gegensatz zur Herrschaft, Dominanz und Macht. Sisterhood als widerständige Praxis gegen strukturelle Unterdrückungsmechanismen. Als ein Narrativ, das Schmerz anerkennt und Differenz feiert. Eine dramaturgische Arbeit, die Autor:innenschaft in ihre Praxis einbezieht. Aus welcher gesellschaftlichen Perspektive erzähle ich? Welche Erzählungen sind von dieser Perspektive aus möglich? Was sehe ich nicht? Warum bin ich die richtige Person, um diese Geschichte zu erzählen? Und eine dramaturgische Arbeit, die das Publikum in ihre Praxis einbezieht. An wen richte ich mich? Wen schließe ich aus? Auf welche emotionale Reise möchte ich das Publikum schicken? Mit welchen Fragen möchte ich das Publikum beschenken?

Die U.S.-Autorin Ursula Le Guin hielt die Vorstellungskraft für das mit Abstand nützlichste Werkzeug, das der Menschheit zur Verfügung steht. Imaginierte Alternativen zu aktuellen, hierarchischen Lebensweisen sind eine Form des Protests, der an der gegenwärtigen Vorherrschaft rüttelt und damit eine Gefahr für alle ist, die vom aktuellen System profitieren. Le Guin bekräftigt, dass die Vorstellungskraft eine ist, die abseits von Bildung und Diskurswissen besteht. Sie ist also anders als das intellektuelle Konzept der Utopie. In ihr liegt eine echte Chance für Revolution, weil es sich nicht der Werkzeuge der Herrschenden bedient, sondern eigene hervorbringt. Die Vorstellungskraft von marginalisierten Körpern ist ein Instrument des Widerstands gegen die aktuellen Zustände und eine Demontage des Glaubens an bestehende dramaturgische Modelle als die einzige, natürliche, universelle Option. „Etwas Wahres zu imaginieren“, ist alles zugleich: Überlebensstrategie, Protestform und Quelle für neue Erzählweisen!

Letícia Milano & Johanna Faltinat

Büro für vielfältiges Erzählen

Wir haben das BvE 2019 gegründet. Unsere Expertise liegt in der Schnittstelle zwischen Dramaturgie und den Themen Diversität, Inklusion und Antidiskriminierung. Uns geht es um die „danger of a single story“, um die Überwindung stereotypischer Darstellungen und das Potential neuer Erzählweisen. In unserer Arbeit unterstützen wir Menschen aus der Medienbranche, sich ihrer dramaturgischen Entscheidungen bewusst zu werden. Mit der Methode des Dialogs begleiten wir den kreativen Prozess von Medienschaffenden und unterstützen den Blick auf die Machtstrukturen in der Gesellschaft, auf die Branche und auf die eigene gesellschaftliche Position zu schärfen. Den Schmerz anzuerkennen, der von der Gesellschaft marginalisierte und unterrepräsentierte Gruppen im Namen der künstlerischen Freiheit zugefügt wird. Und einen intersektionalen Blick zu entwickeln, der ganz im Sinne von Audre Lorde die Differenz feiert.

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