Bevor die Titanic unterging...

Robert Fischer

Robert Fischer

Filmpublizist, Regisseur und Filmhistoriker. Von 1986 bis 1994 verantwortlicher Redakteur des Festival-Kataloges, von 1992 bis 2016 Programmer mit Schwerpunkt auf internationale Produktionen

1995 hatte ich THE BASKETBALL DIARIES zum Filmfest eingeladen, mit einem jungen Hollywood-Newcomer namens Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle, der kurz zuvor in THIS BOY’S LIFE und WHAT’S EATING GILBERT GRAPE geglänzt hatte. Regisseur Scott Kalvert sollte den Film nach München begleiten, musste dann aber absagen, was schade war, denn ich hatte den Film ziemlich prominent im Cinemaxx programmiert. Das Festival war schon in vollem Gange, als Wolfgang Werner, der den Film für die Presse betreute, mich anrief und meinte, es gäbe eine Chance, sehr kurzfristig DiCaprio nach München zu holen, ob ich Interesse hätte. Aber selbstverständlich!

Wie sich herausstellte, hatte Wolfgang erfahren, dass DiCaprio sich zu diesem Zeitpunkt für Modeaufnahmen für Giorgio Armani in Mailand aufhielt, also quasi um die Ecke. Kurzum, am nächsten Tag traf DiCaprio in München ein. Der junge Mann, den ich abends in einem Lokal in der Thierschstraße begrüßte, sah jünger aus als seine zwanzig Jahre, machte einen eher schüchternen Eindruck, und schien noch ganz erfüllt von seiner Begegnung mit dem großen Mailänder Modeschöpfer.

Kurz vor acht sind wir dann mit ihm ins Kino rübergegangen, wo er vor der Vorführung des Films das Publikum mit sehr viel Charme auf Deutsch begrüßte (seine Mutter kommt ja aus Deutschland). Die Leute waren hingerissen. Wir sind zurück ins Lokal, und eine Stunde später ging’s wieder ins Kino zum Q & A. Das Publikum war begeistert von seiner Leistung in dem Film, es gab langen, herzlichen Applaus. Danach standen Wolfgang und ich noch draußen im Foyer und haben auf Leo gewartet. Wir entdeckten ihn an der Snackbar, wo er sich lebhaft mit zwei jungen Zuschauerinnen unterhielt, die ihn beim Herausgehen einfach angesprochen hatten.

Von Schüchternheit war nichts mehr zu spüren, er plauderte mit offensichtlichem Vergnügen und ohne jede Eile mit den beiden Münchner Mädels und konnte gar kein Ende kriegen. So eine Situation wäre schon ein Jahr später, als DiCaprio mit ROMEO + JULIA zum Posterboy wurde, kaum mehr vorstellbar gewesen und nach TITANIC (1997) ganz und gar undenkbar.

Es gibt ein Foto mit ihm und mir in dem Lokal. Meine älteste Tochter brachte die Aufnahme, auf die sie ziemlich stolz war, ein paar Jahre später, als DiCaprio weltweit zum Teenie-Schwarm geworden war, mit in die Schule. Die Reaktion ihrer völlig unbeeindruckten Klassenkameradinnen: Ja, ganz nett, aber so was haben unsere Väter auch auf dem Computer, nennt sich Photoshop...

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