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Das perfekte Leben

Christoph Gröner
Christoph Gröner

Filme, die einen Blick zurück in die Geschichte und in unser kompliziertes Hier und Jetzt werfen: Die Reihe Neues Deutsches Kino zeigt 14 großartige Weltpremieren.

Das perfekte Leben

Das FILMFEST MÜNCHEN zeigt in der Reihe „Neues Deutsches Kino“ 14 deutsche Produktionen als Weltpremieren – Die deutsch-deutsche Geschichte bildet dabei einen vielschichtigen Themenkern, ob als Tragikomödie, Biopic oder Drama. In weiteren Werken wird hintergründig die Reibungsfläche zwischen dem Individuum und der Gesellschaft ausgelotet.

 Die Filme erforschen die Möglichkeit des Hier und Jetzt – selbst, wenn sie bisweilen historisch grundiert sind. Wir freuen uns, dass wir sehr kraftvolle Lebenszeichen des deutschen Kinos so geballt dem Publikum präsentieren können – ob sozialrealistisch, absurd oder auch sehr poetisch.

Christoph Gröner, Künstlerischer Leiter des FILMFEST MÜNCHEN über seine Auswahl
Nahschuss Online 01
Das Mädchen Online 03
Lieber Thomas Online 05

 

Platznot in der Vergangenheit

 

„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin will ich nicht bleiben, aber /“ beginnt eines der bekanntesten Zitate von Thomas Brasch, der sich mit den komplexen Zuständen in der DDR und der Bundesrepublik beschäftigte. Der kunstvolle Schwarz-Weiß-Film LIEBER THOMAS von Andreas Kleinert portraitiert den rebellischen Schriftsteller (Albrecht Schuch) assoziativ, collagiert mit Auszügen aus dessen Werken. Er wird die Reihe Neues Deutsches Kino eröffnen.

In NAHSCHUSS von Franziska Stünkel spielt Lars Eidinger den, von Werner Teskes Leben inspirierten, DDR-Karrieristen Franz Walter, der zwar in der Stasi immer weiter aufsteigt, aber schnell mit seinen Taten zu hadern beginnt. Als Walter tanzt, heult und schreit Lars Eidinger – definitiv ein weiterer Höhepunkt in seiner Schauspielkarriere. In MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN wünscht sich Gudrun die beschauliche Ost-Vergangenheit eigentlich zurück. In ihrem Regiedebüt zeichnet Katharina Marie Schubert eine unbeugsame Frauenfigur, besetzt mit Corinna Harfouch, und vermisst dabei den Graben zwischen Ost und West.

Weiter zurück in die deutsche Geschichte geht SCHATTENSTUNDE. Regisseur Benjamin Martins zeigt in seinem intensiven Kammerspiel die Verzweiflung des Dichters Jochen Klepper (Christoph Kaiser), der für sich, seine Frau und seine Stieftochter – beide Jüdinnen – im nationalsozialistischen Deutschland nur noch einen Ausweg sieht...

Überwindung von

Identitätskonflikten

 

Natürlich spielt das Thema Diversität und Identität ebenfalls eine zentrale Rolle in der Reihe Neues Deutsches Kino 2021. Sarah Blaßkiewitz wirft in ihrem Erstlingswerk IVIE WIE IVIE einen spielerischen Blick auf Alltagsrassismus und Identitätskrisen: Ivie (Haley Louise Jones) hat plötzlich eine (Halb-)Schwester – das bringt ihr Leben ordentlich durcheinander. Sie fühlt sich fremd im eigenen Freundeskreis und im eigenen Leben. Auch die Beziehung der Freundinnen in VIVA FOREVER ist nicht mehr wie früher. Regisseurin Sinje Köhler entführt in ihrem selbst geschriebenen Langfilmdebüt an den sonnigen Gardasee. Hier muss eine Clique von Endzwanzigerinnen feststellen, dass sie sich alle verändert haben. GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG, der zweite Film von Helena Hufnagel (nach EINMAL BITTE ALLES), widmet sich der Generation Tinder. In dieser Komödie, basierend auf dem titelgebenden Bestseller-Sachbuch von Autor Michael Nast, arbeiten sich Frederick Lau und Luise Heyer als “odd couple” mit viel Wortwitz aneinander ab

 

Zwei Dokumentarfilme gehen direkt und einfühlsam zugleich der Frage der Geschlechteridentität nach. TRANS – I GOT LIFE von den Regisseurinnen Imogen Kimmel und Doris Metz begleitet Transmenschen auf dem Weg zu sich selbst und zeigt Höhen und Tiefen im Prozess der Geschlechtsangleichung. DAS STARKE GESCHLECHT nimmt sich derer an, die sich in ihrer Sexualität vorgeblich sicher fühlen: heterosexuellen Männern. Regisseur Jonas Rothlaender bringt die Protagonisten mit den schriftlich festgehaltenen Fantasien anderer Männer aus der Fassung und somit zum Reden – über die eigenen Unsicherheiten und Erfahrungen.

Auf eine neue Reise geht es für Anke Engelke, die eine andere Seite von sich zeigt. Im Drama MEIN SOHN brilliert sie als verzweifelte, leicht eingefahrene Mutter. Lena Stahl schickt ihre Protagonistin mit ihrem Sohn (Jonas Dassler, bekannt unter anderem aus LOMO), der nach einem Unfall schwer verletzt ist, auf einen Roadtrip durch ein ungewohntes Deutschland.

 

Pure Place Online 03
Nö Online 01

 

Ein „Nö“ zu Langeweile

und einem festgefahrenen Leben

 

In weiteren Filmen der Reihe wird Spießbürgerlichkeit thematisiert und auf die Schippe genommen. von Dietrich Brüggemann zeigt in raffinierten Tableau-Bildern und One-Shot-Szenen mit trockenem Humor die Nöte eines Paars: ein schwarzhumoriges Bild einer Generation, die an der Utopie des perfekten Lebens scheitert. Auch Helga (Ulrike Willenbacher) in MONDAY UM ZEHN ist durchgerutscht. Sie ist durch den Boden ihres Wohnzimmers gekracht und steckt nun fest. Eine wunderbare Metapher auf ihr festgefahrenes Leben. Regisseurin Mareille Klein blickt mit jeder ironischen Drehbuchzeile hinter die Fassade deutscher Bourgeoisie.

Besonders expressionistisch reflektiert Regisseur Nikias Chryssos über deutsche Sauberkeitsmythen: Statt an „schmutzigen Gedanken“ sind die Sektenmitglieder in A PURE PLACE an der absoluten Reinheit interessiert. Die Geschwister Irina und Paul wollen sich aus den Fängen der Sekte befreien – und Belgiens Star Sam Louwyck beeindruckt als Sektenführer Fust. Mit Patina und kultigem Lebensgefühl zieht HEIKOS WELT von Dominik Galizia in den Bann, der seinen Protagonisten Darts spielend durch die Bars ziehen lässt. So richtig gut ist er erst, wenn er ein paar Bier und „Futschis“ intus hat. Aber er braucht das Preisgeld für die Augen-Operation seiner Mutter. Also heißt es: Saufen für Mutti!

Der Förderpreis Neues Deutsches Kino

 

Der mit insgesamt 70.000 Euro dotierte Förderpreis Neues Deutsches Kino wird von den drei Partnern DZ BANK AG, Bavaria Film und Bayerischer Rundfunk gestiftet. Ausgezeichnet werden damit die besten Nachwuchsleistungen in den Spielfilmen der Reihe Neues Deutsches Kino des FILMFEST MÜNCHEN. Im Wettbewerb um den Förderpreis sind automatisch alle Regisseur:innen, Produzent:innen, Drehbuchautor:innen und Schauspieler:innen, deren Spielfilme für die Reihe Neues Deutsches Kino ausgewählt wurden, sofern es sich um ihren ersten, zweiten oder dritten abendfüllenden Kinospielfilm handelt. Bei Produzent:innen darf es höchstens der sechste Film sein.

 

In diesem Jahr erfüllen Talente aus zehn Filmen, die auf dem FILMFEST MÜNCHEN ihre Weltpremiere feiern, diese Kriterien. Das Preisgeld von 70.000 Euro wird aufgeteilt auf den Preis für Beste Regie (30.000 Euro), Beste Produktion (20.000 Euro), Bestes Drehbuch (10.000 Euro) und Beste Schauspielerische Leistung (10.000 Euro). Über die Auszeichnung entscheidet eine dreiköpfige Jury – in diesem Jahr sind das: Sophie von Kessel (Schauspielerin), Komi M. Togbonou (Schauspieler und Münchner Kammerspiele-Ensemblemitglied) und Barbara Mundel (Intendantin der Münchner Kammerspiele). Die Preisverleihung findet am 9. Juli um 21.15 Uhr im POPUP SOMMERKINO powered by M-net im Innenhof der HFF statt (nur auf Einladung).

Förderpreis Neues Deutsches Kino REGIE

Nikias Chryssos für A PURE PLACE

Helena Hufnagel für GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG

Dominik Galizia für HEIKOS WELT

Sarah Blaßkiewitz für IVIE WIE IVIE

Katharina Marie Schubert für DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENENEN HÄNDEN

Lena Stahl für MEIN SOHN

Mareille Klein für MONDAY UM ZEHN

Franziska Stünkel für NAHSCHUSS

Benjamin Martins für SCHATTENSTUNDE

Sinje Köhler für VIVA FOREVER

 

Förderpreis Neues Deutsches Kino PRODUKTION

Alexis Witgenstein für A PURE PLACE

Dominik Galizia für HEIKOS WELT

Milena Klemke, Yvonne Wellie für IVE WIE IVIE

Ingo Fliess für DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN

Miriam Düssel für MEIN SOHN

Benjamin Martins, Floriana Maddalena Maiello für SCHATTENSTUNDE

Kathrin Rodemeier, Nils Gustenhofen für VIVA FOREVER

 

Förderpreis Neues Deutsches Kino DREHBUCH

Nikias Chryssos, Lars Henning Jung für A PURE PLACE

Helena Hufnagel, Hilly Martinek für GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG

Dominik Galizia für HEIKOS WELT

Sarah Blaßkiewitz für IVIE WIE IVIE

Katharina Marie Schubert für DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN

Lena Stahl für MEIN SOHN

Mareille Klein für MONDAY UM ZEHN

Franziska Stünkel für NAHSCHUSS

Benjamin Martins für SCHATTENSTUNDE

Sinje Köhler für VIVA FOREVER

 

Förderpreis Neues Deutsches Kino SCHAUSPIEL

Greta Bohacek, Claude Albert Heinrich für A PURE PLACE

Tedros Teclebrhan für GENERATION BEZIEHUNGSUNFÄHIG

Martin Rohde für HEIKOS WELT

Haley Louise Jones, Lorna Ishema, Maximilian Brauer für IVIE WIE IVIE

Birte Schnöink für DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN

Ulrike Willenbacher für MONDAY UM ZEHN

Beate Krist, Christoph Kaiser, Sarah Palarczyk für SCHATTENSTUNDE

Homa Faghiri, Thandi Sebe, Ina Maria Jaich, Natalia Rudziewicz, Janet Rothe für VIVA FOREVER

 

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