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Von Türen und Tänzen

Michael Stadler
Michael Stadler

Meisterhafte Grenzgängerin: Das FILMFEST MÜNCHEN widmet der polnischen Regisseurin Małgorzata Szumowska in Kooperation mit MUBI eine Hommage und zeigt ihren neuen Spielfilm DER MASSEUR

Von Türen und Tänzen

Tür auf, Tür zu, Tür auf…

 

Irgendwo hakt’s doch immer. Ob Julia Jentsch in 33 SZENEN AUS DEM LEBEN (2008) mit einer auf- und zugehenden Fahrstuhltür zu kämpfen hat oder Juliette Binoche in DAS BESSERE LEBEN (2011) eine Kühlschranktür nicht zubekommt – die Türen in den Filmen von Małgorzata Szumowska scheinen ein Eigenleben zu führen, widersetzen sich den Protagonistinnen, als ob sie sie verspotten wollten. Auch in BODY (2015) fällt das Augenmerk zwischendurch auf eine Tür: Untersuchungsrichter Janusz wohnt mit seiner Tochter Olga in einer Wohnung in Warschau. Seine Frau, Olgas Mutter Helena, starb vor sechs Jahren. Die Tür, die zu Helenas altem Zimmer führt, ist plötzlich geöffnet, wie von Geisterhand. Eine Therapeutin, bei der Olga in Gruppentherapie geht, glaubt wiederum, mit der toten Mutter in Verbindung treten zu können. Kann sie mit einer Séance tatsächlich eine Tür Richtung Jenseits öffnen?

 

 

 

Er forderte von uns ein, dass wir uns von der Banalität des Journalismus frei machen, dass wir am Realismus nicht hängen bleiben wie an Mutters Schürze, keine Angst vor Metaphern haben und die Erzählung als ,zweite Erwägung‘ behandeln.

Erinnerungen von Szumowska an ihren Lehrer Wojciech Has

Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod

 

Immer wieder beschäftigt sich Małgorzata Szumowska in ihrem Werk mit Tod und Trauer, beleuchtet den Umgang mit Verlusten. Dabei lässt sich ganz klar eine Verbindungslinie zu ihrer eigenen Biographie ziehen. Geboren wurde sie 1973 in Krakau als Tochter der Schriftstellerin Dorota Terakowska und des Journalisten Maciej Szumowski. In deren kreativem Umfeld wuchs sie auf, studierte selbst Kunstgeschichte in Krakau und absolvierte ein Regiestudium an der Filmhochschule Łódź. Einer ihrer Dozenten war Wojciech Has, ein Meister des polnischen Kinos, der die Lehre in Łódź stark prägte.

Szumowska drehte in Łódź kurze Experimental- und Dokumentarfilme, darunter BEFORE I DISAPPEAR, in dem sie eine Hochzeit wie ein Begräbnis erscheinen lässt: Die Gäste sind in Schwarz gekleidet, dinieren und tanzen in einem Landhaus, bis die Braut blumenumkränzt in einem See wie eine Leiche liegt. 1998 schloss sie ihr Studium in Łódź ab, einige Zeit später legte sie mit Hilfe von Wojciech Has ihr Spielfilmdebüt vor: HAPPY MAN (2000) dreht sich um einen Mann um die 30, der mit seiner Mutter in einem heruntergekommenen Stadtviertel wohnt. Als die Mutter todkrank wird, versucht der Sohn, ihrem Wunsch nachzukommen, endlich eine feste Arbeit und attraktive Partnerin fürs Leben zu finden.

 

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Małgorzata Szumowska mit Festivalleiterin Diana Iljine bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig.

Schon in diesem Erstling wird eine schwere Krankheit zu einem elementaren Handlungsmotor. Szumowska zweiter Spielfilm, ONO/LEBEN IN MIR (2004), handelt von einer jungen Frau aus ärmeren Verhältnissen, die unverhofft schwanger wird. Während das Leben in ihr wächst, verschlechtert sich zunehmend der Zustand ihres dementen Vaters. Die Rolle des vergesslichen Papas besetzte sie mit dem Schauspieler Marek Walczewski, der zur Zeit des Drehs tatsächlich schon schwer an Alzheimer erkrankt war. Ein gewisser Hang, sich an der eigenen Realität zu orientieren, mit dem von Has empfohlenen Mut zur filmischen Metapher setzt sich auch in Szumowskas folgenden Filmen fort.

In 33 SZENEN AUS DEM LEBEN (2008) muss Julia erleben, wie erst die Mutter im Krankenhaus stirbt und kurze Zeit später ihr Vater. Ähnlich waren 2004 Szumowskas Eltern beide kurz hintereinander gestorben. Szumowska führte in dieser Zeit Tagebuch und arbeitete es später in ein Drehbuch um, das aus 33 Szenen bestand. Bezeichnend ist dabei, wie im Film die gesamte Familie mit dem Kummer umgeht: Ihre Trauer übertünchen sie mit hedonistischer Lebenslust, selbst beim Begräbnis des Vaters kommt es zu heiteren Momenten. Obwohl es an allen Ecken und Enden hakt (die Fahrstuhltür), werden die Probleme fröhlich überspielt.

 

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Juliette Binoche in DAS BESSERE LEBEN (2011)

Was das Herz begehrt

 

Mit ihren ersten Spielfilmen hatte Szumowska sich als genaue Beobachterin der menschlichen Psyche hervorgetan. „Małgorzata ist gut darin, das Universelle in all seinen kleinen Details zu erkennen“, stellt Drehbuchautorin Tine Byrckel in einem Interview fest. Die französische Produzentin Marianna Slot hatte die Idee zu dem Film ELLES/DAS BESSERE LEBEN (2011), als sie einen Artikel über junge Studentinnen gelesen hatte, die sich als Escort-Damen verdingten. Gemeinsam mit Byrckel suchte sie nach einer Regisseurin, sah sich 33 SZENEN AUS DEM LEBEN an und engagierte daraufhin Małgorzata Szumowska. Die erlebte damit ihr Regiedebüt im französischsprachigen Raum und brachte zu den Dreharbeiten in Paris ihren langjährigen kreativen Partner (und zeitweiligen Lebenspartner) mit: Michał Englert hatte sie bereits auf der Filmschule in Łódź kennengelernt. Bei ONO/LEBEN IN MIR war er erstmals für die Bildgestaltung zuständig und übernahm in späteren gemeinsamen Projekten, angefangen mit IM NAMEN DES… (2013), auch die Funktion des Drehbuchautors und Mit-Produzenten.

Bei der Recherche zu DAS BESSERE LEBEN war Szumowska überrascht, wie selbstbewusst die jungen Prostituierten wirkten: „Um ehrlich zu sein, ich war schockiert. Schockiert deshalb, weil ein so schönes und intelligentes Mädchen Vergnügen daran findet, mit Männern für Geld zu schlafen.“ Im Film ist Journalistin Anne dementsprechend fasziniert von den Erzählungen ihrer Interviewpartnerinnen. Dabei kommen nicht nur die Männer schlecht weg – auch auf ihre Heldin wirft Szumowska einen ironischen Blick: Anne unterwirft sich dem Schönheits/Jugenddiktat, trimmt ihren Körper vor Fitness-Videos, muss mit ihrer Redakteurin am Telefon um die Länge ihres Artikels feilschen – auch die Journalistin verkauft ihre Dienste – und bricht aus ihrer Rolle als Ehefrau nur für eine Nacht aus.

Nach ihrem Paris-Ausflug kehrte Szumowska nach Polen zurück und inszenierte mit IM NAMEN DES… (2013) einen Film, der sich ebenfalls um sexuelle Selbstbestimmung dreht, mit explosiver Kraft. Denn der Pfarrer, der sich zusammen mit anderen Betreuern einem Sommer-Camp um eine Gruppe junger Straftäter kümmert, möchte seine Homosexualität geheim halten – bis sein Interesse an einem der Jugendlichen offensichtlich wird. Szumowska kritisiert das verlogene System der katholischen Kirche, die das „Problem“ mit dem Pfarrer schlicht damit löst, dass er, wenn es zu Vorfällen kommt, von einer Stelle zur nächsten versetzt wird. Gleichzeitig hat sie mit Andrzej Chyra einen Hauptdarsteller, der die inneren Konflikte Adams transparent macht und die Sympathien durchaus auf seine Seite zieht.

 

 

 

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Body

Draußen vor der Tür – Polen im Umbruch

 

Für IM NAMEN DES… wurde Szumowska mit dem Teddy Award bei der Berlinale 2013 ausgezeichnet. Zwei Jahre später gewann sie, ebenfalls in Berlin, den Silbernen Bären für BODY (2015), eine Tragikomödie, in der sie sich vor allem dafür interessiert, wie Trauer sich in die Körper einschreibt. Nach dem Tod der Gattin/Mutter verändert sich die Physis des (nun gefräßigen) Vaters und der (nun magersüchtigen) Tochter. Gleichzeitig kommt über die Therapeutin Anna ein weiterer Körper ins Spiel: der massive, von keinen Esszweifeln getrübte Leib eines Hundes, mit dem Anna in ihrer kleinen Wohnung zusammenlebt und sogar nachts im Bett liegt. Die Sehnsucht nach Wärme, nach Zuneigung und gegenseitiger Empathie durchzieht den Film, aber Szumowska versteht es, jedem Kitsch mit Humor entgegenzuwirken. Nebenbei zeichnet sie ein trostloses Bild von Warschau, lässt ihre Figuren in Plattenbauten wohnen, deren Architektur sie einengt, rahmt sie zudem in Fenstern oder Türen ein.

 

 

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Die Maske

Szumowska wirft in ihren Filmen immer wieder einen schonungslosen Blick auf ihre Heimat, zeigt ein Polen, das sich 1989 nach dem Ende des Kommunismus dem Kapitalismus zuneigte, aber in dieser Schwellenerfahrung irgendwie steckenblieb. Menschen, die früh morgens vor den Schiebetüren eines Kaufhauses ausharren – damit beginnt DIE MASKE (2017). Sobald die Türen sich öffnen, schwärmt die Menge in die Verkaufsräume, zieht sich bis zur Unterwäsche aus, kämpft um billige LCD-Fernseher, während über die Lautsprecher „Weihnachtsschnäppchen für Nackedeis“ verkündet werden. Unter ihnen ist auch Jacek, Heavy-Metal-Fan und Bauarbeiter, der später am eigenen Leib erfahren wird, wie absurd sich der Katholizismus mit der Wettbewerbsideologie des Kapitalismus vermischen kann.

Eine Jesus-Statue wird mit Blick auf das Provinzkaff Świebodzin errichtet und soll größer werden als die berühmte Christusstatue von Rio de Janeiro. Nach einem Sturz in die Tiefe der Statue kommt Jacek schwer verunstaltet ins Krankenhaus. Dank einer Gesichtstransplantation bekommt er ein leicht versehrtes, neues Antlitz, muss jedoch feststellen, dass sich seine Freundin von ihm abgewendet hat. Um die Schulden für die Transplantation zu tilgen, wird Jacek das „neue Gesicht“ einer Werbekampagne, was jedoch dazu führt, dass die Kirchengemeinde, die zuvor noch eifrig für ihn spendete, die Unterstützung komplett einstellt. So entlarvt Szumowska in DIE MASKE die Bigotterie frömmelnder Provinzler und die Ausbeutungsmechanismen eines profitorientierten Systems.

Gibt es denn einen Fluchtweg aus der Tristesse, eine Möglichkeit zur Rebellion? Nach ihrem ersten englischsprachigen Film, dem Horrorfilm THE OTHER LAMB (2019), der von einer Frau handelt, die sich gegen den männlichen Guru einer ansonsten weiblichen Sekte zur Wehr setzt, ging Szumowska gleich ihr nächstes Projekt an: DER MASSEUR (2020). Gemeinsam mit Michał Englert, der nicht nur am Drehbuch mitschrieb, die Kamera führte und mitproduzierte, sondern auch erstmals als Co-Regisseur mitwirkte, drehte sie den Film in einer real existierenden Gated Community in Warschau. Das Gesicht dieses neureichen Biotops ist im Grunde auch eine Maske: Alle Häuser sehen gleich aus, nur die Türglocken klingen individuell. Und schau mal, wer da klingelt: Ein Masseur (Alec Utgoff) steht draußen vor der Tür und wird stets hereingelassen, weil er mit seinen Händen Wunder bewirken kann.

Dass dieser Engel auch ein Teufel sein könnte, der seine Kund:innen per Hypnose nicht nur auf eine innere Reise in eine Naturidylle versetzt – der Wald taucht in Szumowskas Œuvre immer wieder als magischer Rückzugsort auf –, sondern sie auch über die Schwelle Richtung Tod bringen kann, deutet der Film gleich zu Beginn an. Doch in erster Linie ist Zhenia, der Mann aus der, für die Polen, „exotischen“ Ukraine, ein Heilsbringer, der unglücklichen Damen Entspannung bringt und sich als Objekt der Begierde anbietet. Im Vergleich zu anderen Szumowska-Filmen ist DER MASSEUR (2020) ein sanftes, melancholisches Werk, das von einer Gemeinschaft erzählt, in der die Leute nicht mehr wissen, von welchem Glück sie eigentlich träumen.

 

Der Masseur Online 02

DER MASSEUR tanzt für seine Kundinnen.

Ausbruch in der Bewegung

 

Bei aller Sozialkritik interessiert sich Szumowska für die Sehnsüchte ihrer Hauptfiguren, sympathisiert bevorzugt mit Außenseiter:innen, die einer rigiden, streng gläubigen Gesellschaft gegenüberstehen und mit Verlusterfahrungen klar kommen müssen. Eine klemmende Fahrstuhltür ist dabei wie ein Augenzwinkern, ja, jede Tür birgt doch die Hoffnung, dass man irgendwann den Blick auf Neues öffnen und vielleicht mit Altem abschließen kann. Zudem begrenzen sie den Schauplatz, geben ihm Struktur.

Insgesamt haben Małgorzata Szumowska und Michał Engler zu einer starken Form gefunden. Die Einstellungen in DER MASSEUR sind wunderbar durchkomponiert, die Bilder von klarer Brillanz. Die Ordnung der Erzählung durchbricht Szumowska jedoch immer wieder mit improvisiert wirkenden Augenblicken. Ihre Figuren dürfen ausbrechen, vor allem in der Bewegung. Sei es, dass Pfarrer Adam in IM NAMEN DES… sturzbesoffen mit einem Porträt von Papst Johannes Paul II schunkelt oder Jacek in DIE MASKE zum Sound des Heavy Metal Luftgitarre spielt – in Szumowskas Filmen wird fast immer getanzt. Auch Zhenia legt einmal eine elegante Ballett-Einlage hin, dreht Pirouetten in der Wohnung einer Kundin, die er in Trance versetzt hat. Für einen Moment ermächtigt sich der illegale Einwanderer aus der Ukraine des fremden Raums. Selbst als zwei Jungs durch die Eingangstür kommen, lässt Zhenia sich nicht aus der Ruhe bringen. Er tanzt einfach weiter, während sie ihm still, wie im Kino, zuschauen.

Das FILMFEST MÜNCHEN zeigt im Rahmen der Hommage DER MASSEUR, der u.a. mit dem Preisgeld des CineCoPro Awards 2019 finanziert wurde. Die Termine sind: Sonntag, 4.7., um 19 Uhr im Carl-Orff-Saal und Freitag, 9.7., um 21.15 Uhr auf der Open-Air-Leinwand im Garten des Institut Français in Anwesenheit von Małgorzata Szumowska. MUBI zeigt während des Festivals die digitale Sonderreihe: „Maskierungen & Körperkino: Eine Hommage an Małgorzata Szumowska“, mit den Filmen DAS BESSERE LEBEN (ab 2. Juli), BODY (ab 4. Juli) und DIE MASKE (ab 5. Juli). Zudem bietet MUBI anlässlich der Kooperation mit dem FILMFEST MÜNCHEN ein 30-tägiges, kostenloses Probeabonnement an (Anmeldung untermubi.com/filmfest-muenchen).

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