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Geniale Mimin

Antonia Mahler
Antonia Mahler

Das FILMFEST MÜNCHEN ehrt in diesem Jahr die einzigartige Jessica Lange mit dem CineMerit Award für ihre Verdienste um die Filmkunst. Ihre beeindruckende Karriere umfasst mehr als vier Dekaden und wird von zwei Oscars, fünf Golden Globes, drei Emmys und einem Tony gekrönt.

Geniale Mimin

OPERATION BLUE SKY
FOTO: 1994 Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

Rastlos streift die elegante Dame durch das Sprechzimmer ihres Neurologen. Immer wieder ballt sie ihre rechte Faust, umschließt sie mit der linken. Ihr Blick will ausweichen und überzeugen zugleich. Fragen nach dem Datum oder dem Namen des Krankenhauses kann sie souverän beantworten. Zur unlösbaren Aufgabe wird ihr ein Bogen gelbes Papier. Zu Hälften und Vierteln soll er gefaltet werden. Ihre zittrigen, schmalen Finger beginnen und kommen trotz Mühen zu keinem Ergebnis. Die Titelheldin in THE GREAT LILLIAN HALL (2023) ist seit Jahrzehnten Broadway-Star und kämpft nun plötzlich mit Gedächtnisschwächen. Der Versuch, den Arzt mit ihrer Scharade zu täuschen, muss scheitern. Lillians Demenz ist nicht länger zu leugnen.

Schauspielkunst bedeutet mehr als nur Rollen spielen – sie ist das Erschaffen einer lebendigen Figur und Erzählung durch Mimik, Gestik und Sprache. In Jessica Langes Karriere wurde die Reflexion über das Dasein als Performerin zum zentralen Motiv. Im Alter von 20 Jahren zog sie nach Paris, um bei Étienne Decroux, dem großen Meister der modernen Pantomime, zu studieren. Decroux‘ Fokus auf die reine Bildsprache des Körpers prägte Jessica Langes Schauspielkunst nachhaltig.

The Great Lillian Hall Online1

The Great Lillian Hall

Nach dem symbolträchtigen Start in die Filmbranche – als wehrlose Frau eingezwängt in die Hand des King Kong – gab Jessica Lange zunächst die Rolle der Blondine in Hollywood zum Besten. Ein zu bekannter Part, der mit Erwartung wie Unterschätzung einhergeht. Nach WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT (1981), an der Seite von Jack Nicholson, hatte sie es geschafft, als Charakterdarstellerin wahrgenommen zu werden. Die Befreiung aus der Faust des Affen folgte aber erst 1982 mit ihrer Rolle in FRANCES, einem Biopic über Schauspielerin Frances Farmer im gnadenlosen Studiosystem der Dreißigerjahre.

Die wahre und tragische Geschichte der jungen Schauspielerin spiegelt Jessica Langes eigene Abneigung gegenüber Hollywood wider. Aufgewachsen auf dem Land im nördlichen Minnesota, lockte sie zwar die weite Welt, aber nicht unbedingt Ruhm in der Traumfabrik. Die emotionale Anspannung der Hauptfigur in FRANCES teilte sie genauso wie deren künstlerischen Ambitionen. Farmer galt als stur und politisch fragwürdig, aber auch als talentiert und schön. So kam es zu einem Studio-Vertrag mit Paramount, der sie privat zerstörte. Sie landete wegen angeblicher Hysterie für viele Jahre in einer Psychiatrie.

Dieses schauspielerische Highlight des Jahres 1982, Jessica Langes Darstellung der Frances Farmer, wurde begleitet von ihrem Kinohit TOOTSIE, der zum absoluten Welterfolg werden sollte. Bis heute landet TOOTSIE in den Top 20 der erfolgreichsten Kinokomödien aller Zeiten. Im selben Jahr nominiert für FRANCES und TOOTSIE, gewann Jessica Lange für zweiteren ihren ersten Academy Award in der Kategorie Beste Nebendarstellerin.

Frances Online2

Frances
FOTO: 1982 STUDIOCANAL FILMS Ltd.

Den zweiten Oscar gewann Jessica Lange für ihre Hauptrolle in OPERATION BLUE SKY (1994). Carly Marshall ist darin die bipolare Ehefrau eines U.S.Army Majors. Sie nimmt sich als verhinderter Schauspielstar wahr und inszeniert sich als Varianten von Brigitte Bardot und Marilyn Monroe. Mit ihrer extrovertierten Persönlichkeit mischt sie ihr Familienleben auf einer Militärbasis auf. Für die Unruhestifterin kommt jedoch der Moment, in dem sie ihrem Mann beistehen muss, als dieser der Vertuschung von gefährlichen Atomtests auf die Schliche kommt.

Regenschirm Website

Operation Blue Sky
FOTO: 1994 Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

Die TV-Erfolgsserie AMERICAN HORROR STORY führte Jessica Lange ins Horror-Genre, aber auch zurück auf eine Bühne. Ab 2011 wurde sie in insgesamt vier Staffeln der Erfolgsserie einem ganz neuen Publikum bekannt. In ihrer persönlichen Lieblingsstaffel FREAK SHOW verkörperte sie Elsa Mars, die Direktorin einer Varieté-Truppe, bestehend aus Menschen mit Behinderungen oder besonderen Merkmalen. Unter den funkelnden Lichtern eines Zirkuszelts präsentiert Elsa u. a. siamesische Zwillinge und eine Frau mit Vollbart, die im Dorf bald zu Unrecht verdächtigt werden, Verbrechen begangen zu haben. Elsas eigene Geheimnisse schlummern da noch in der Vergangenheit.

Lillian Hall aus Jessica Langes aktuellem Film schwelgt häufig in Erinnerungen an vergangene Tage, die sie noch mit ihrem verstorbenen Mann teilte. In der Gegenwart wartet eigentlich eine Produktion von Tschechows „Der Kirschgarten“ auf ihre Premiere, und die erwachsene Tochter hofft schon lange darauf, Lillian würde sich eines Tages doch für den Part als Mutter begeistern. Viele Rollen gibt es für Jessica Lange zu füllen in THE GREAT LILLIAN HALL: der Star, die Mimin, die Demente, die schlechte Mutter und die Blenderin. Die komplexe Person Lillian Hall mit all ihren Herausforderungen präsentiert Lange scheinbar mühelos, ganz so, wie es nur eine große Schauspielerin schaffen kann.

Das FILMFEST MÜNCHEN zeigt drei ausgewählte Titel aus Jessica Langes großer Hollywood-Karriere. AN EVENING WITH … JESSICA LANGE bringt sie zum ausführlichen Gespräch am 30. Juni live auf die Bühne des Deutschen Theaters, wo sie ihren neuesten Film THE GREAT LILLIAN HALL vorstellen und den CineMerit Award entgegennehmen wird.

Ausstellungs Foto Website

Through Her Lens – Photographs by Jessica Lange

Obendrein präsentiert das FILMFEST MÜNCHEN Schauspielstar Jessica Lange von einer weniger bekannten Seite. Seit einigen Jahren arbeitet sie auch als erfolgreiche Fotografin, hat insgesamt vier Bildbände veröffentlicht. Mit ausgewählten Schwarz-Weiß-Fotografien kommt sie ins Deutsche Theatermuseum am Münchner Hofgarten. Im Fokus der Ausstellung „Through Her Lens – Photographs by Jessica Lange“ stehen dabei Arbeiten, die Lange während des Lockdowns in New York City fotografierte. Der Big Apple und die überfüllten, dicht bevölkerten Straßen wurden durch die Pandemie ihres Charakters beraubt. Fotografin Jessica Lange fängt die rohe und verwaiste Natur der ikonischen Querstraßen Manhattans ein. Ein spärlich besetzter Bürgersteig, ein Open-Schild, das falsche Hoffnungen macht oder ein zum Stillstand gezwungenes Karussell.

Am 1. Juli 2024 wird die Ausstellung mit einer Vernissage im Deutschen Theatermuseum eröffnet und kann bis zum 8. September 2024 besucht werden.

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